Gulli-Parabel

Es war einmal ein Junge. Der fand neben dem prächtig-hässlichen Gebäude der Bremischen Bürgerschaft etwas Wundersames: einen Gulli mit einem Schlitz in der Mitte. „Nun gut“, dachte der Bremer Bursche, „wenn dieser Gulli einen Schlitz hat, so will ich mein Glück versuchen und eine Münze hineinwerfen.“ Kaum war der Taler im Schlitz verschwunden, ertönte ein seltsames Geräusch aus der Tiefe. Es klang wie das Bellen eines Hundes. „Heißa“, rief der Junge verzückt, „mein Taler bringt einen Hund zum Singen. Ich will es gleich noch einmal versuchen.“ Und tatsächlich. Kaum war der Taler in die Tiefe gesaust, bellte ein Hund.

Am nächsten Tag kam der Bremer Bursche wieder am Gulli vorbei und beschloss, erneut den Hund bellen zu lassen. Doch was war das? Nach Einwurf einer Münze hörte er eine Katze. „Habe ich vielleicht ein falsches Geldstück hineingeworfen?“, überlegte der Jüngling besorgt. Auch beim nächsten Versuch belohnte kein Bellen seine Spende, sondern das Krähen eines Hahnes ertönte und ließ dem Burschen alle Haare zu Berge fahren. Er schrie: „Oh Grauß! Die Beine in die Hand genommen und fort mit mir! Vielleicht bellt der Hund nur zu einer bestimmten Uhrzeit.“

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So geschah es, dass der Junge monatelang Tag und Nacht zum Gulli neben der Bremischen Bürgerschaft pilgerte, ein paar Münzen einwarf und lauschte. Doch vergebens. Hahn, Katze und manchmal etwas, das wie ein Esel klang, waren zu hören. Nie mehr wieder aber der Hund. Als der Bursche fast sein ganzes Vermögen in den Schlitz des wundersamen Gullis geworfen hatte, blieb ihm noch ein letzter Taler. Der Jüngling küsste dieses glänzende Stück Metall und warf auch dieses durch den Schlitz in die Tiefe. Nach endlos scheinender Stille ertönte ein… Bellen? Der Junge war nicht nur arm, sondern auch wahnsinnig geworden. Er wusste nicht, welches Geräusch er gerade gehört hatte. Ein Bremer Bürger erzählt, er habe den Jüngling zuletzt dabei gesehen, den berühmten Spuckstein abzulutschen…

Diesen Gulli gibt es wirklich. Der Erlös wird für soziale Projekte in Bremen gespendet. Das Märchen ist natürlich nur ausgedacht. Wobei… so fern der Realität ist es vermutlich gar nicht. Der Bursche erinnert mich stark an das eigene Ich. Und zwar besonders, wenn ich verliebt bin. Ob man sich in Bellen, Mijauen, Krähen oder Wiehern verliebt, geschieht ziemlich willkürlich. Die Grenzen zwischen wahrer Liebe und Wahnsinn sind wohl fließender als das Plattdeutsch eines Muttersprachlers. Leider auch genauso schwer zu verstehen. Man investiert (bestenfalls) viel Geld, (aber normalerweise auch noch) viel Zeit und (schlimmstenfalls) viel Herzblut. Die Crux liegt jedoch hierin: Ob sich der Einsatz lohnt, weiß man eben erst zum Schluss. Und dieser Wille zum Einsatz hat gewissermaßen etwas Ehrenhaftes. Wie der große Gatsby, der bis zum letzten Atemzug glaubt, dass seine (recht willkürlich gewählte, weil eigentlich hysterisch-garstige) Daisy zu ihm kommen wird. In diesem Willen zum Einsatz und in dieser unerschütterlichen Hoffnung zeigt sich ein Stück der wahren Liebe. Oder ist es wahre Dummheit? Ich muss ehrlich sagen, ich weiß es genauso wenig wie der Jüngling am Ende der Parabel.

Wahre Liebe = Wahrsinn? Coco Chanel hat mal gesagt: „Es gibt eine Zeit für die Arbeit. Und es gibt eine Zeit für die Liebe. Mehr Zeit hat man nicht.“ Wenn das stimmt, dann lieben wir, ob wir wollen oder nicht. Dann bleiben wir Gatsby. Dann hören wir nicht auf, Taler in einen Gulli zu werfen. Und wir wissen ja: Wenn das Ende nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende… Ich habe den Jungen übrigens gestern mit einem Golden Retriever an der Weser spazieren gehen gesehen.

In Liebe

Lasse